… nirgendwo Hilfe
Psalm 22,2.12 – Karfreitag

[...] mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen. [...] Ich werde allmählich wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir. Ich werde in der nächsten Zeit noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen. Du wirst wohl auch karge Zeiten in mir erleben, mein Gott, in denen mein Glaube dich nicht so kräftig nährt, aber glaube mir, ich werde weiter für dich wirken und dir treu bleiben und dich nicht aus meinem Innern verjagen.

Diese Sätze hat Etty Hillesum an einem Sonntagmorgen des Jahres 1942 in ihr Tagebuch geschrieben. Sie lebte als Jüdin und Widerstandskämpferin zurzeit der Nazi-Besatzung in Amsterdam. Wie gefährlich das für jüdische Menschen ist, war ihr klar. Aber sie will auch unter Lebensgefahr nicht aufhören, Mensch zu sein und dem Leben einen Sinn abzuringen. Ihre atemberaubenden Tagebucheinträge sind gekennzeichnet von einer radikalen Selbstsuche, die den biblischen Gott zum Ziel hat.

[...] mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer,
dass du uns nicht helfen kannst.

Das ist kein resignativer, gottloser Satz. Im Gegenteil: Etty Hillesum, die schon ein Jahr nach dem Tagebucheintrag in Auschwitz-Birkenau ermordet wird, beschreibt die Realität in umwerfender Klarheit. Der Satz begründet ein tiefes Vertrauen auf Gott im Innersten einer jeden und eines jeden. Und begründet es in der Zwiesprache mit Gott.

[...] mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.

Dieser Herausforderung stelle ich mich auch an diesem Karfreitag. Und an allen Tagen, an denen mich Schmerz und Leid mundtot macht. Ich schaue auf das Kreuz und leihe mir Worte aus dem 22. Psalm:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Sei nicht fern von mir, denn Bedrängnis ist nah,
nirgendwo Hilfe.

Schon Jesus hat sich diese Worte geliehen. Er schreit am Kreuz geliehene Worte über die Sehnsucht nach Gott. Holt damit Gott an diesen Ort, bindet ihn an den gottlosesten Ort. Jesus macht sich Klageworte zu eigen, die er aus der jüdischen Tradition kennt. Das Klagen aber ist gerade kein richtungsloses Jammern. Es ist vielmehr ein im tiefem Gottvertrauen gründender Schrei nach Gott – gerade dort, wo Gott abwesend scheint.

Mein Gott, mein Gott, … nirgendwo Hilfe.

Das ist die händeringende Suche nach dem Gott, der sich Menschen zuwendet. Hier wird Gott an sein Versprechen des Da-Seins erinnert. Gottes Nähe wird so eingeklagt.

Das Matthäusevangelium zeigt uns also einen Jesus, der sich die altvertrauten Worte von Psalm 22 leiht. Bis in den Wortlaut hinein nimmt das Evangelium den Psalm auf. Wo Jesus sich eine Sprache für das Unaussprechliche borgt. Damit tut sich hinter der scheinbar sachlichen Darstellung eines schrecklichen Ereignisses auf Golgotha eine neue Welt auf. Das Kreuzigungsgeschehen in seiner absoluten Sinnlosigkeit wird vom Psalm her durchsichtig für Sinnbezüge. Wenn Jesus mit Psalm 22 betet

Mein Gott, mein Gott, … nirgendwo Hilfe.

dann stellt er sich in eine Tradition von verzweifelten, gescheiterten, verfolgten, beschämten, verwundeten, gefolterten, todkranken, leidenden Menschen. Es ist kein spezifisches Leiden, das der Psalm schildert. Und es ist kein konkreter Mensch, der hier schreit und fleht. Ich höre aus den Psalmworten die Ur-Figur des Leidens. Mit ihr identifiziert sich der sterbende Jesus. Die Psalmen waren lebenslang seine Gebete. Mit ihnen betet er auch im Sterben.

Mein Gott, mein Gott, … nirgendwo Hilfe.

Psalmen öffnen Räume, in denen auch das, was himmelschreiend unverständlich ist, einen Ort bekommt. Nicht, dass ich dann an diesem Ort alles begreife und verstehe. Aber die aktuelle Situation soll nicht das letzte Wort haben. Mit Etty Hillesum sage ich an die Adresse Gottes:

Ich werde in der nächsten Zeit noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen.

Damit baue ich auf Veränderung der Situation. Setze auf Gottes Da-Sein, trotz allem. Damit das Leid nicht triumphiert und Täter nicht über Opfer obsiegen. Daher nennt Psalm 22 auch Gegner, die sich gegen die Leidensfigur erheben und sie verspotten. Diese Gegner stehen für die lebenszerstörenden Kräfte, für das Chaos. Gott aber steht aber für das Ringen gegen das Chaos ein. Wie schon in den ersten Zeilen der Bibel. So beschwört auch der Psalm einen Gott, der sich selbst treu bleibt.

Jesus leiht sich also Worte. Psalmen öffnen Räume, in die ich mich hineinstelle mit meinen Fragen, Wünschen, Ängsten. Hier haben sie einen Ort, werden ins Gespräch gebracht. Die abgrundtiefe Gottesverlassenheit wird mit Erinnerungen an Gottes Dasein ins Gespräch gebracht. Der Raub der Menschenwürde kommt ins Gespräch mit Gott, der mit einer Hebamme gleicht. Die tödliche Bedrohung mit der Erinnerung, dass Gott ein Gott des Lebens ist. Es geht dabei nicht darum sich Gott verfügbar zu machen. Denn Gott ist ja nie zu haben. Es geht um ein Festhalten an der Hoffnung. Und durch solches Festhalten beginnt die Veränderung.

Aus dem Vorschuss Hoffnung auf Gottes Nähe erwächst die Zuversicht, dass es mehr geben muss als alles. Dass das Totalitäre durchbrochen wird. Und es einen Ort gibt, von dem aus das schreckliche Jetzt in ein neues Licht getaucht wird. Indem Jesus sich am Kreuz den 22. Psalm zu eigen macht, bezeugt er die Gegenwart Gottes. Holt Gott an diesen tiefsten Punkt, von dem die Kreuzigungsgeschichte erzählt. Klagen und Schrecken verhallen also nicht. Sie haben einen direkten Ansprechpartner in Gott, in dem Gott für uns. Und wie Jesus sich die Worte ausleiht, sich in sie hineinbirgt, so darf auch ich sie nachsprechen. Stelle mich dann in den Raum, der das Leid und das Verlassen-Sein ernst nimmt. Stehe dabei an der Seite Jesu und kämpfe darum, dass die Nähe Gottes erfahrbar bleibt, auch heute und was auch geschieht. Denn:

[...] mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.

Amen.

 


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